Sinfonie der Stille

Zuletzt aktualisiert: Nov 26, 2024 | Körper

Die Abnahme der Mikrobiom-Diversität und ihre Folgen für unsere Gesundheit

Seit Hunderttausenden Jahren lebt der Mensch in enger Harmonie mit den Bakterien seines Körpers. Ohne unser Mikrobiom wären wir schon längst ausgestorben. Die Bakterien erweitern unseren Genpool von 20.000–25.000 proteinkodierenden Genen auf etwa 3 Millionen Gene. Diese enorme genetische Vielfalt, die wir unserem Mikrobiom verdanken, war die Basis für unser Überleben, indem sie unsere Gesundheit maßgeblich beeinflusste. Doch die Diversität unseres Mikrobioms nimmt rasant ab. Und damit nimmt auch unsere Fähigkeit ab, in einer grundsätzlich feindlichen Welt überleben zu können.

Einzigartige Symbiose: Wie Mikroorganismen und Mensch zusammenarbeiten

Unser Körper ist eine einzigartige Symbiose aus ungefähr 30 Billionen Körperzellen und 38 Billionen Bakterien. Die Mikroorganismen sind eine faszinierende Verbindung mit uns eingegangen. Sie leben fast überall in uns, denn es gibt kaum eine Stelle, die steril ist. Dadurch sind wir ein symbiotischer Organismus, bei dem die Körperzellen den Bakterien eine geschützte und nährstoffreiche Umgebung bieten, während die Bakterien im Gegenzug uns mit ihrem gewaltigen Genpool in vielen Bereichen lebensnotwendige Unterstützung gewähren und unsere Gesundheit absichern.

Die Verbindung von Darm und Gehirn: Die Darm-Hirn-Achse und ihre Auswirkungen

Durch die gewaltige Steigerung unseres Genpools um das 150-Fache beeinflussen sie ganz wesentlich die Entwicklung und Funktion unseres Immunsystems, produzieren oder unterstützen die Produktion von Neurotransmittern und Signalstoffen, die unsere Stimmung, unseren Appetit, unseren Schlaf und sogar unser Verhalten beeinflussen. Die Darm-Hirn-Achse sendet über den Vagusnerv bis zu 90 % ihrer Signale vom Darm zum Gehirn und nicht umgekehrt. Auch die Produktion von Hormonen und deren Regulation ist von den Mikroorganismen abhängig. Nützliche Bakterien verdrängen zudem pathogene Erreger und verhindern, dass wir krank werden. Darüber hinaus können die Bakterien prinzipiell durch horizontalen Gentransfer Gene mit uns austauschen.

Am deutlichsten wird dies an unseren Mitochondrien sichtbar, den Orten unserer Zellatmung, die dafür sorgen, dass der für uns eigentlich toxische Sauerstoff positiv für unser Überleben genutzt wird. Diese wurden wahrscheinlich aus Bakterien gebildet, die vollständig von frühen eukaryotischen Zellen aufgenommen wurden. Somit existiert in jeder einzelnen Körperzelle in uns ein Urbakterium in Form der Mitochondrien. Mehr Symbiose geht nicht.

Im Anfang war die Musik

Um ein Bild zu verwenden: Die menschlichen Zellen bilden mit den Bakterien ein Orchester, das gemeinsam die Sinfonie des Lebens erklingen lässt. Auch wenn das etwas plakativ klingen mag – ohne dieses perfekte Zusammenspiel würde keine Musik erklingen, kein Leben möglich sein. Der Mensch hat maximal von dieser Sinfonie profitiert. Der Homo sapiens, unsere moderne menschliche Spezies, existiert seit etwa 300.000 Jahren. Zuvor gab es mehrere Vorläuferarten, die vor mehreren Millionen Jahren entstanden und letztendlich zur Entwicklung des Homo sapiens führten. Und alle perfektionierten im Laufe der Zeit das Zusammenspiel aus Bakterien und menschlichen Zellen.

Diese Sinfonie, die unsere Billionen von Bakterien und Körperzellen über Millionen von Jahren begleitet hat und stets in uns lebendig war, diese Sinfonie, die uns immer weiterentwickeln ließ, ist nun jedoch am Verstummen.

Drastischer Rückgang der mikrobiellen Diversität

Über Hunderttausende von Jahren hat die hohe Diversität des Mikrobioms, also das Zusammenspiel vieler verschiedener Bakterien, für unser Überleben gesorgt und unsere Gesundheit gefördert und abgesichert. Doch der Fortschritt, oder besser gesagt das „Fortschreiten“ der modernen Zivilisation, hat allein in den letzten Jahrzehnten eine Reduktion der Diversität bewirkt, die höchst alarmierend ist. Das Ausmaß des Rückgangs ist nur sehr schwer zu quantifizieren, aber vergleichende Experimente an Mäusen und Studien von menschlichen Populationen in industriellen Städten im Gegensatz zu ländlichen Gegenden weisen auf einen signifikanten Verlust hin. Ein Rückgang der mikrobiellen Diversität in den Industriestaaten im Vergleich zu ländlichen Gegenden innerhalb der letzten 100 Jahre wird auf ca. 30–50 % geschätzt.

Ursachen für den Rückgang: Warum die Diversität des Mikrobioms abnimmt

Die wesentlichen Hauptfaktoren für diesen Rückgang sind das „dreckige Dutzend“:

Gründe für die Abnahme der mikrobiellen Diversität

1. Antibiotikakonsum

Der weltweite Antibiotikakonsum und Missbrauch in der Tierhaltung. In den USA werden bis zu 80 % aller produzierten Antibiotika in der Tierzucht eingesetzt, da sie neben der Bekämpfung von Krankheiten auch zur Erhöhung der Biomasse um ca. 15 % führen.

2. Kaiserschnittrate

Der Anteil der Kaiserschnittgeburten stieg von 5 % im Jahr 1970 auf heute 20 %. Frauen bekommen heutzutage später Kinder, und Ärzte empfehlen schneller einen Kaiserschnitt, um das Risiko zu senken. Dabei kommt es jedoch nicht zu einer Übertragung von Bakterien aus dem vaginalen Mikrobiom. Auch rechtliche Haftungsfragen der behandelnden Ärzte und vermehrtes Übergewicht bei Schwangeren spielen eine Rolle.

3. Ballaststoffarme Ernährung

Die westliche Ernährung ist sehr ballaststoffarm. Dadurch wird sie nach oraler Aufnahme schon frühzeitig von nicht-hilfreichen Bakterien verstoffwechselt und gelangt nicht mehr zu den förderlichen Bakterien, die auf eine ausreichende Zufuhr an Ballaststoffen angewiesen sind. Diese nehmen folglich ab.

4. Lebensweise in Industrieländern

Menschen in Industrieländern haben im Gegensatz zu traditionellen Gesellschaften eine wesentlich geringere mikrobielle Diversität, bis zu 30 % weniger. Der geringere Kontakt zur Natur spielt hier neben den anderen oben aufgeführten Faktoren eine wesentliche Rolle.

5. Verarbeitete Lebensmittel

Zwischen 1950 und 2000 hat sich der Konsum von verarbeiteten Lebensmitteln verdreifacht. Konservierungs- und Zusatzstoffe, ein geringerer Gehalt an sekundären Pflanzenstoffen und fehlende Fermentation schränken die Bakterienvielfalt stark ein.

6. Übertriebene Hygiene

Der Gebrauch von antibakteriellen Seifen, Mundwässern, Desinfektionsmitteln und allgemein Hygienemaßnahmen, die während der Coronozeit wohl ihren Höhepunkt erreicht hatten, tötet Bakterien ab und drückt dadurch die Diversität.

7. Pestizide

In den letzten 40 Jahren hat sich der Einsatz von Pestiziden verdoppelt. Die Pestizide werden mit der Nahrung aufgenommen und führen entweder durch ihre direkte antimikrobielle Wirkung zu einem Abtöten von Bakterien oder zu einer Störung des mikrobiellen Gleichgewichts.

8. Konsum von Zucker und Süßstoffen

Der Konsum hat sich in den letzten 50 Jahren verdreifacht. Künstliche Süßstoffe wirken sich besonders gravierend auf das Mikrobiom aus.

9. Protonenpumpenhemmer

Seit 1990 hat sich der Gebrauch von Protonenpumpenhemmern verdoppelt. Diese destabilisieren das Gleichgewicht im Darm und führen zu einem Verlust der Diversität.

10. Fettleibigkeit

Die Prävalenz von Fettleibigkeit hat sich in den letzten 50 Jahren verdoppelt. Zucker, Entzündungen und Stoffwechselprodukte des Fettgewebes beeinflussen die mikrobielle Balance.

11. Vitamin-D-Mangel

Weltweit haben 40 % der Bevölkerung einen Vitamin-D-Mangel, was zu einer Schwächung der Darmbarriere und vermehrt entzündlichen Darmerkrankungen führen kann.

12. Toxine im Trinkwasser

Weltweit steigen Chemikalien im Trinkwasser an. Sie stören die mikrobielle Balance, beeinträchtigen die Darmbarriere und wirken als endokrine Disruptoren.

Ein empfindliches Gleichgewicht: Was passiert, wenn die Vielfalt schwindet?

Mikrobielle Populationen stehen in einem komplexen und sensiblen Gleichgewicht zueinander. Sie verändern sich ständig, kommunizieren miteinander und versorgen sich gegenseitig mit Nährstoffen. Wird dieses ausbalancierte Gleichgewicht jedoch gestört, so gibt es erhebliche gesundheitliche Auswirkungen. Dies kann mit einem Orchester verglichen werden, bei dem die Genialität einer Sinfonie leicht durch störende Zwischenrufe zerstört werden kann. Hält diese Störung an, wird das Orchester letztlich verstummen.

Keystone-Taxa und mikrobielle Gilden: Die Dirigenten und Musiker des Mikrobioms

In diesem Zusammenhang ist das Konzept der „Keystone-Taxa“ und „mikrobiellen Gilden“ erwähnenswert. Keystone-Taxa sind bestimmte Bakterienarten im Mikrobiom, die essenzielle Funktionen erfüllen. Sie können in geringer Anzahl vorkommen, doch ihr Fehlen hätte dramatische Folgen für die mikrobielle Gemeinschaft und damit für den menschlichen Organismus. Im Orchester wäre dies der Dirigent oder die erste Geige.

Mikrobielle Gilden sind wiederum Gruppen von Mikroorganismen, die eng zusammenarbeiten, um wichtige biologische Prozesse im Darm zu unterstützen, z. B. den Abbau bestimmter Nährstoffe. Wird eine Gilde aufgrund von Umweltfaktoren oder Lebensstilveränderungen beeinträchtigt, schwächt dies ebenfalls die Vielfalt und Stabilität des Mikrobioms. In der Orchester-Analogie entspräche dies den zweiten Geigern oder den Blasinstrumenten.

Der Kipppunkt: Wann der Verlust der Diversität irreversibel wird

Der Zerfall des Mikrobioms
Das Mikrobiom zerfällt aufgrund seiner reduzierten Diversität

Welche Auswirkungen auf unsere Gesundheit hat es jedoch, wenn die Diversität des Mikrobioms weiter abnimmt? Es gibt die Theorie des „Kipppunktes“ oder den „Point of no return“ – der Punkt, ab dem das Mikrobiom irreparabel zusammenbricht und nicht wiederhergestellt werden kann. Dies kann zu irreparablen Gesundheitsschäden führen.

Wie ein Kartenhaus bricht die Sinfonie des Lebens dabei in sich zusammen.

Und wird zur Sinfonie der Stille. (JS)


Quellen und weiterführende Literatur

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